Friedrich und seine Freunde von der Anarcho-syndikalistischen Jugend und einige vom Kommunistischen Jugendverband zogen mit Kampfesrufen und unter Absingen von Arbeiterliedern am 30. Mai 1923 vom Hechtviertel zum Bahnhof Dresden-Neustadt.
Sie forderten ein Ende der Lebensmittelverteuerungen, Schluss mit der galoppierenden Inflation, Schluss mit der kapitalistischen Ausbeutung und die Schließung der Wucherläden. In jedes Geschäft drangen sie ein, forderten deren sofortige Schließung und die Herausgabe der Kassen, um damit ihre Agitation und Propaganda zu finanzieren.1

Dass sie die kleinen Händler und Arbeiterfamilien im Hechtviertel hauptsächlich schädigten, nahmen sie als minimalen Schaden in Kauf. Die Systemfrage war ihnen wichtiger. Hervorgegangen aus linken und sozialistischen Gewerkschaften, entstanden ab 1923 die militanten „Schwarzen Scharen“ der anarchistischen Bewegung um die FAUD2.
Inzwischen versammelten sich am Bahnhof mehrere hundert junge Leute. Sie bewaffneten sich mit Knüppeln, Messern und Zaunlatten. Dann kam es in den Abendstunden, als eine Abteilung eines Reichswehr-Reiterregiments den Vorplatz des Neustädter Bahnhof mittels Zug in Richtung Alberstadt verlassen wollte, zu heftigen Auseinandersetzungen.
Der Tumult brach los, als ein Soldat sich bedrängt fühlte und einen Schuss in die Luft abgab. Die inzwischen eingetroffenen Polizisten ließen die Gummiknüppel sprechen und vertrieben die Anarcho-Freunde, die leicht lädiert den Ort der Revolte verließen.3 Einzeln fahrende Reichswehrsoldaten werden aus den Straßenbahnen geholt, entwaffnet und zum Teil misshandelt.

Alles begann am Antonsplatz
Am Donnerstag, den 24. Mai versammelten sich einige Erwerblose an der Markthalle am Antonsplatz4 in der Altstadt im dortigen Arbeitsamt, um gegen die rapiden Steigerungen der Preise für Lebensmittel zu protestieren. Zunächst forderten sie die Schließung der Wuchergeschäfte in der benachbarten Markthalle. Dann kontrollierten sie die Preise und riefen nach einem Marktgericht, das gegen den Wucher vorgehen sollte. Dann zog der Trupp zum Hauptbahnhof und zurück zum Antonsplatz. Unterwegs drängten sie auf Schließung der Geschäfte und Restaurants und die Herausgabe der Einnahmen der „kapitalistischen Wuchergeschäfte“.
Am Wettiner Bahnhof (heute Bahnhof Mitte) hindern am 28. Mai ab morgens 4 Uhr vom Lande kommende Lebensmittellieferanten, ihre Waren zu den Markthallen zu bringen und schicken sie wieder zurück.
Sturm auf die Semperoper
Am anderen Tag erhöhte sich die Teilnehmerzahl auf mehrere Tausend. Inzwischen wurde in allen Stadtteilen demonstriert. Geschäftsleuten, die ihre Läden, Kneipen, Restaurants nicht schlossen, wurde gedroht, ihre Läden zu zertrümmern. Auch die Wartehallen auf den Bahnhöfen mussten schließen. Aber nicht überall hatten die Demonstranten Erfolg. Im Kristallpalast an der Schäferstraße wehrten sich die Gäste gegen die Demonstranten und vertrieben diese.
Am Abend drangen etwa einhundert Demonstranten in die Semperoper ein und forderten den Abbruch der Vorstellung. In Zeiten, in denen es dem Volke schlecht erginge, dürften die wenigen „Schlemmer“, denen es gut gehe, keine Lustbarkeiten durchführen. Dass ein großer Teil der Opernbesucher über das finanziell gestützte System der Volksbühne in der Oper waren, sahen die Demonstranten nicht.
Durch Verhandlungen erreichte der Intendant, dass die Vorstellung wenigstens zu Ende geführt werden konnte. Zudem versprach er, am Ende der Vorstellung eine Sammlung unter den Theatergästen zu Gunsten der Erwerbslosenunterstützung durchzuführen und einen großen Teil der Sammlung für den Druck von Flugblättern zu nutzen. Dem stimmte die Theaterintendanz zu. Daraufhin zogen die etwa 800 Demonstranten vor der Oper ab. Aber eine Sammlung wurde nie durchgeführt.
Gerüchte und Falschmeldungen
Die Klassenfeinde von der Schlägerpolizei hätten sieben Arbeiter zu Tode geprügelt, andere redeten von acht, die erschossen wurden. Diese Angaben machten unter den Demonstranten in den nächsten Tagen die Runden und heizten das aggressive Klima weiter an. Es fanden sich auch zwei Abgeordnete des linken Lagers aus dem Sächsischen Landtag, die einige Zeugen zur Polizei brachten. Doch die waren nicht an den Orten der angeblichen Geschehnisse gewesen. Eine weitere Meldung: Der Dresdner Polizeipräsident sei am 29. Mai vor den Erwerbslosen mit seinem Auto geflohen, nachdem tags zuvor die Aufrührer das Polizeipräsidium gestürmt hätten.
Mit Knüppeln, kaputten Bierflaschen und Steinen wehrten sich die Demonstranten. Die Polizei jagte die Erwerbslosen beritten und zu Fuß am Postplatz und am Rathenauplatz vor der Synagoge mit Schüssen in die Luft auseinander. Es gab zahlreiche Verhaftungen. Aber Tote gab es nicht und die Blessuren sollen unerheblich gewesen sein.
Die SPD-geführte Minderheitsregierung
in Sachsen befand sich in einem Dilemma. Einerseits gab sie sich als sozialistische Regierung aus, die auf Seiten der Arbeiterschaft stehe, andererseits musste sie gegen den willkürlichen Aufruhr vorgehen. Dieser sei doch letztendlich „Wasser auf die Mühlen der Reaktion“, so deren Meinung.
Eine Lösung hatte die Landesregierung nicht parat. Sie konnte die Inflation nicht aufhalten, die Preise reduzieren. Und so versprach sie nur, sich um eine deutliche Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung einzusetzen, was aber in der alleinigen Verantwortung der Reichsregierung läge. Man warnte ohnmächtig die Proletarier, sich von nationalistischen Provokateuren und Anarchisten einvernehmen zu lassen.
Mittlerweile dehnten sich die Unruhen auch auf die Dörfer und kleinen Städte in Sachsen aus. In Dresden berieten der Oberbürgermeister, der Polizeipräsident und die Vertreter der Wirtschaftsverbände. Im Landtag traten die Vertreter der Gewerkschaften, der SPD und der KPD, letztere stützte notgedrungen die Regierung, zusammen.
In Dresden selbst kam es immer wieder zu neuen Ansammlungen. Redner forderten die Arbeiter immer wieder auf, solange auf der Straße zu bleiben, bis die Lebensmittelpreise deutlich gesenkt wurden. Das Wetter spielte dem Staat in die Hände. Vom 26. bis zum 28. Mai regnete es in Strömen. Selten hatte die Obrigkeit Stoßgebete nach oben um mehr Sturm und Regen gerichtet.

Auf in die Neustadt
Bevor sich Friedrich und seine Freunde von den Anarcho-Syndikalisten auf den Weg machten, drangen andere Demonstranten auf die Hauptstraße und die Bautzner Straße vor und erzwangen auch hier die Schließung der Geschäfte und Kneipen. Ein Teil ging weiter zum Waldschlößchen und der andere über die Albertbrücke zu den Blumensälen in der Johannstadt sowie zum Ausstellungspalast am Stübelplatz. Die Markhalle in der Hauptstraße wurde auch gezwungen, ihre Läden zu schließen. Die Folge war, wie in anderen Markthallen auch, dass etliche Lebensmittel, Fleisch- und Wurstwaren vergammelten. Auch erzwang man die unentgeltliche Nutzung der Straßenbahn.
Einige Radikale setzten unter Androhung von Gewalt zudem die Schließung der Konsum-Verkaufsstellen in den Arbeiterbezirken, so dass die Arbeiterfrauen kein Brot mehr erwerben konnten.
Am 31. Mai 1923 kehrte endlich in Dresden wieder Ruhe ein. Vorerst.

Anmerkungen des Autors
1 Dresdner Nachrichten vom 27. Mai bis 1. Juni 1923
2 Wikipedia unter dem Stichwort Freie Arbeiter-Union Deutschlands
3 Dresdner Volkszeitung vom 27. Mai bis 1. Juni 1923
4 der Antonsplatz ist heute überbaut, in etwa zwischen Wallstraße und Marienstraße
Unter der Rubrik „Vor 100 Jahren“ veröffentlichen wir in loser Reihenfolge Anekdoten aus dem Leben, Handeln und Denken von Uroma und Uropa. Dafür durchstöbert der Dresdner Schriftsteller und Journalist Heinz Kulb die Zeitungsarchive in der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek. Der vorliegende Text ist literarischer Natur. Grundlage bilden die recherchierten Fakten, die er mit fiktionalen Einflüssen verwebt.